Dienstag, 7. April 2020

Im Wald ist die Welt noch in Ordnung

Wenn ich merke, dass ich mich nicht mehr konzentrieren kann, die Motivation sich nicht einstellen mag oder einfach alles zu viel wird, dann zieht es mich nach draußen. Am liebsten würde ich in diesen Momenten alles stehen und liegen lassen. Einfach die Laufschuhe überstreifen, das Handy (meine Musik) schnappen und raus rennen. 

Gerade jetzt im Frühling ist es besonders intensiv. Nach der langen dunklen Jahreszeit beobachten, riechen und fühlen zu können wie das Leben in die Natur zurück kehrt, das ist überwältigend. Jedes Mal entdecke ich mehr Grün. Die Sonne scheint auf mich herab und im Wechsel mit dem Schattenspiel kommt es mir vor als wäre ich in einer ganz anderen Welt. Unter meinen Füßen abwechselnd weiches Moos, staubiger Sand, fest getretene Erde, harte Stöcke und Steine, Kuhlen und Hügel. Dann fühle ich mich selbst lebendig.


Wer mit offenen Augen durch Wald und Wiesen streift, der wird viel entdecken und mitnehmen dürfen. Neuerdings begleiten mich Schmetterlinge auf meinem Weg, schweben mir voraus, flattern fröhlich bunt an mir vorüber. Gestern trudelten viele Hummeln herum. Auch Rehen begegne ich in der letzten Zeit häufiger. Vor Kurzem habe ich sogar das erste Mal überhaupt in freier Wildbahn einen Fuchs gesehen. Wie ein Kind habe ich gestaunt, es war so aufregend. Sicherlich war der alte Hühnerdieb auf der Suche nach Beute. Ein wunderschönes Erlebnis, von dem ich noch Stunden und Tage zehren konnte. Insbesondere weil die Füchsin seit einigen Jahren zu meinen persönlichen Krafttieren zählt. Sie ist schlau und anpassungsfähig, nimmt sich was  sie braucht.  Sie beobachtet, bevor sie handelt und verlässt sich auf ihr feines Gespür. Eine trickreiche Diva, verspielt und doch stets auf der Hut. Für ihre Jungen gibt sie alles. Ich liebe Füchse.


Mein Herz schlägt höher und richtig schnell in solchen Momenten. Abgesehen vom Puls, der ohnehin schon durch das Laufen beschleunigt ist, meine ich. Nach einigen Minuten komme ich in einen Flow, wird mein Kopf ganz leer - im positiven Sinne und ich fühle mich frei. Gereinigt, unbeschwert. Die körperliche Anstrengung, mein Atem, der Meter vor mir, die Welt um mich herum. Alles löst sich auf und verschmilzt gleichzeitig. Ich werde eins mit mir selbst und dem Leben, in dessen pulsierender Mitte ich unterwegs bin. Sorgen, Pflichten, Abgabetermine sind für eine Weile vollkommen vergessen. Dann kann ich endlich einmal wirklich loslassen. Die ganze Last fällt ab.

Nicht umsonst kam der Begriff des Waldbadens vor einer Weile auch hier zu Lande in Mode. Spazieren am Strand, Wandern in den Bergen, Gassigehen mit dem Hund in heimischen Feldern, Schwimmen im kalten See. Egal wo oder wie wir die Natur unmittelbar erleben; wenn wir tief darin eintauchen wird deutlich, wie stark wir in ihr verankert sind und wo unsere wahren Wurzeln liegen. Wir sagen, dass wir uns die Gedanken mal ordentlich durchpusten lassen müssen und da ist was dran. Nichts sortiert das Getümmel in meinem Kopf so gut, wie eine Stunde da draußen. Es ist die Kombination von Auspowern und Freiluft. Sechzig Minuten auf dem Laufband im Fitnessstudio tun mir auch gut. Aber es ist nicht dasselbe.

Vor mir im Regal in meinem Homeoffice steht ein Schwarz-Weiß-Foto. Meine Freundin D. hat es im Wald aufgenommen, gerahmt und mir zum letzen Geburtstag geschenkt. Es zeigt einfach nur wie die Sonne durch die Baumwipfel fällt und den schattigen, dicht bewachsenen Boden. Mehr nicht. Aber auch nicht weniger. Wenn meine Augen dorthin wandern, dann verspüre ich einen Sog. Der Anblick fesselt mich sofort. Ein sehr ursprünglicher Teil in mir wird angesprochen, der auf die Wälder reagiert. D. meinte, dass es sie an jenes Bild erinnert hätte, das bei uns im Schlafzimmer über dem Bett hängt. Ebenfalls eine Schwarz-Weiß-Aufnahme. Ebenfalls vom Wald. Mich erinnert es auch daran.

Dazu gibt es eine Geschichte. Jahrelang blieb besagte Wand über unserem Bett kahl und leer. Was mich störte. Meinen Mann nicht. Ich wollte etwas Besonderes dort hängen haben. Allerdings wusste ich nicht wirklich was für ein Motiv es eigentlich sein sollte. Es passierte ewig nichts. Eines Tages, ich hatte den Gedanken an ein Bild für diese große Wand schon beinahe aufgegeben, waren wir in einem Möbelhaus unterwegs. Aus einem ganz anderen Grund. Als wir jedenfalls alles beisammen hatten und in Richtung Kasse wollten, sah ich diese lange, horizontale Leinwand in der Ausstellung hängen. Und es war sofort um mich geschehen. Ich stand da und war ganz gefesselt. Ich verspürte eben jenen Sog. Ein Gefühl, eine Erinnerung, ein leiser Ruf in meinem Herzen. Da wusste ich, dass ich gefunden hatte, worunter ich abends einschlafen wollte. Wir nahmen es mit, hängten es auf und ich sagte: Dieses Bild gibt mir Frieden. Ich nenne es meinen Märchenwald, Zauberwald, magischen Wald. Dort herrscht auf immer Nebel. In meinen Träumen bin ich nachts schon häufig hindurch gewandelt. Habe ihn als Vorlage für Meditationen genutzt. 

Wälder üben seit je her eine starke Faszination und Anziehung auf die Menschen aus. Sie sind wild und ursprünglich, man kann sich in ihnen verirren. Überall huschen vor den Blicken verborgene Tiere und es herrscht ein unverwechselbarer, charakteristischer Duft, wie sonst nirgends. In so gut wie jedem alt überlieferten Märchen spielt der Wald eine zentrale Rolle. Ein Ort für Initiationen und Heldenreisen, um den eigenen Schatten, lauernden Gefahren und Gespenstern zu begegnen. Als bedrohlich galten die Wälder, nur die Mutigsten trieben sich dort herum oder die Seltsamen, Unangepassten. Wer genau hinschaut, der sieht noch heute in die lächelnden Gesichter von Baumgeistern, entdeckt Feenkreise aus Pilzen, Steinen oder Blumen und dieses kräftige, ewig währende, ausdrucksstarke, übermächtige, heilkräftige Grün. 

Wir finden besondere Geschenke auf einer kleinen Pilgerreise durch den Wald. Kraftgegenstände, Talismane. Wer bittet, dem wird gegeben werden. In den ersten Wochen der Corona-Krise, als die Angst mich völlig schockstarr machte, hielt ich mich fest an diesem Mantra: Please guide me, please lead me, please show me the way. Ich ging mit so vielen Fragen da hinaus und kam mit einfachen, aber eindrücklichen Antworten zurück: Mit Signalen und Wegweisern der Hoffnung. So fand ich zu meinen Füßen ein Hölzchen in der Form der Rune Algiz, die mir persönlich sehr viel bedeutet. Was für ein ausführliches Statement das war! Ein überaus mächtiges Symbol, das seit Alters her mit Schutz in Verbindung gebracht wird. Sogar dafür einsteht, wie kaum ein anderes Schriftzeichen. Auch für mich bedeutet Algiz absoluten Schutz. Aber darüber hinaus noch so viel mehr. Algiz macht Mut. Es bedeutet ganz und gar im Augenblick präsent zu sein. Fest mit den Beinen auf dem Boden der Tatsachen zu stehen und den Kopf hoch aufgerichtet zu den Wolken. Denn nur wenn man voll da ist und die Gesamtsituation klar überblicken kann, ist man wirklich handlungsfähig und in der Lage, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Nur wer ganz in seiner Mitte ruht und versteht, was vor sich geht, kann sich schützen. Deshalb ist Algiz eine Rune der Selbstbestimmung und Eigenverantwortung. Sie sagt: Du bist sicher und geschützt. Passe Du  gut auf Dich auf und gib auf Dich selber acht. Sieh genau hin, was vor sich geht. Algiz ist mächtig. Du hast Macht. Du kannst Einfluss nehmen. Du kannst einwirken. Steh aufrecht. Sei stark. Sieh den Tatsachen ins Gesicht. Schütze Dich selbst, dann schütze ich Dich. Dann bist Du geschützt.


Ich probierte von diesem Tag an bei jedem Lauf einen anderen Weg aus. Lief keine zweimal hintereinander dieselbe Strecke. Ich wollte etwas Neues entdecken. In der Bemühung um Orientierung, um mich nicht zu verirren, fand ich zu mir und gelangte immer wieder sicher ans Ziel. Ich sah noch unzählige Algiz aus Stöckchen und Rinde. Die meisten von ihnen waren viel detailgetreuer gewesen als mein erstes. Aber dieses eine, das habe ich behalten. Ich bückte mich und hob es auf. Seitdem steht es bei meiner Kraftkerze auf dem Hausaltar. Als Wegweiser. Als Erinnerung an mich, dass ich mich nicht verlaufen werde. Dass ich begleitet bin und geführt. Dass ich es schaffen werde. Vielleicht auf Umwegen und unvorhergesehenen Pfaden. Aber wenn ich den Mut nicht verliere, gut aufpasse und meinem Instinkt folge, dann werde ich nicht fehl gehen. Dann komme ich wieder an und am Ende wird es gut. Und wenn es nicht gut ist, dann ist es nicht das Ende, wie die Silberweide immer so schön sagt.

Seit her jedenfalls weiß ich, wenn ich da draußen unterwegs bin und einmal mehr eine neue Abzweigung wähle, da plötzlich irgendwo ein Algiz liegt oder auch mehrere hintereinander, dass ich dieser Strecke ruhig weiter folgen kann. Weil sie mich letztlich wieder sicher nach Hause führen wird. Darauf kann ich mich verlassen. So hat der Wald mich seine eigene Lektion in Vertrauen gelehrt.

Es gibt auch einen Weg heraus aus dieser Krise. Vielleicht habe ich das im Wald begriffen. Vielleicht auch als ich durchs Fenster oder vom Balkon aus das niedliche Eichhörnchen im Garten der Nachbarin beobachtete. Denn das erinnert  mich ebenfalls an etwas. Das possierliche Tierchen hat seine ganz eigene Weisheit. Wie es sich ungestüm und lebenslustig von einem Ast zum anderen wieselt, um in der Tanne neben der Hütte genüsslich irgendwelche Zapfen zu mampfen. Es sagt: Sei flink und sorge vor. Sorge gut für Dich. Aber sorge Dich nicht. Handle einfach vorausschauend. Springe von Gelegenheit zu Gelegenheit, von Tag zu Tag. Du wirst immer wieder Halt finden. Wirst Gaben und Geschenke entdecken. Vielleicht musst Du Dich ein wenig anstrengen, beweglich und flexibel bleiben. Aber Du kommst schon durch. Bleibe wendig, bleibe lebendig. Es mag seine Zeit brauchen und nur in kleinen Schritten voran gehen, aber es geht immer weiter.


2 Kommentare:

  1. Ein klareres Bekenntnis zur Natur konnte ich lange nicht lesen wie hier. Es geht mir bei meinem täglichen Lauf am Landwehrkanal sehr ähnlich. Da Bad in der wunderbaren Naturnähe und und der Nähe zum Lauf des täglichen Wassers.
    Einen schönen ersten Mai Dir. Füchsinnen sind meine Schutziere!

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    1. Ich weiß, dass Du die Füchsinnen auch so sehr liebst.
      Ganz wundervolle Wesen.
      Es freut mich sehr, dass ich Dich mitnehmen konnte in meinen Wald und Dein Herz berühren.
      Auf einen zauberhaften Gang am Landwehrkanal dann auch heute, meine Liebe.
      Ganz herzliche Grüße in die Hauptstadt,
      Deine Ramona

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