Freitag, 20. November 2020

Freundschaft

Dies ist (m)eine Hommage auf eine sehr besondere Form der Liebe, die mir im Leben häufig zu Teil wurde und damit wieder gut gemacht hat, was mir an Zuwendung in der Familie versagt geblieben ist.

Manchmal tue ich mir wirklich leid, so "ganz ohne Mama". Früher mehr als heute. Inzwischen sogar eigentlich kaum noch. Aber wisst Ihr was? Das wäre auch sehr ungerecht. All den Menschen gegenüber, die mir gesandt wurden. Die mich begleitet, geprägt, gestärkt und unterstützt haben. Was sie immer noch tun.

Wir alle sind irgendwie emotional verwundet, jede auf ihre Art. Aber zusammen sind wir stark. Jeff und Dodo (wie ich sie hier mit alten Kosenamen nennen möchte) waren meine Familie, als ich keine mehr hatte. Wir kannten uns aus der Schule und mit zunehmendem Alter wurden wir, aus verschiedenen Gründen, die uns dennoch verbanden, auch zunehmend aufmüpfiger. Später gehörte Mel für einige Jahre dazu, aber wir haben uns erst aus den Augen verloren und dann auch noch sehr unterschiedlich entwickelt. Was nicht schlimm ist, denn es gibt einen Part in unser beider Geschichte, der uns immer verbinden wird.

Heute darf ich eine Reihe von Frauen wahre Freundinnen nennen (und ich differenziere da wirklich sehr), die ich nur an zwei Händen abzählen kann. Was ich bei echter Freundschaft, wie ich sie definiere, als verdammt viel erachte. Denn in gewisser Weise habe ich ein sehr ambivalentes Verhältnis zu Menschen. Einerseits fiel es mir nie leicht zu vertrauen. Was mir aber lange Zeit überhaupt nicht bewusst gewesen ist. Andererseits habe ich ohne Ende ausschließlich bewegend gute Erfahrungen gemacht. So dass ich so gut wie nie in die Bredouille gekommen bin, einer neuen Freundin nicht zu vertrauen. Aber ich habe festgestellt, umso näher jemand mir kam, desto eher fühlte ich mich verletzlich und begann Mauern aufzubauen. Ganz ohne mein willentliches Zutun. 

Manche kamen und gingen. Manchmal weiß man einfach, dass es für immer ist.  Beides ist okay. Dodo wird für immer meine Schwester sein. Wir hatten mal für ein paar Jahre keinen Kontakt. Wir wurden erwachsen und wir verliebten uns. Anfangs war das beängstigend, frustrierend und hat mich verunsichert. Ich war so wütend. Als ich bemerkte, dass wir uns von einander entfernten, weil wir uns in verschiedene Richtungen entwickelten und plötzlich jede ihre eigenen Erfahrungen machen musste. Aber es kam der Punkt, als wirklich Funkstille herrschte. Da stellte sich eine innere Ruhe ein, die einfach wusste, dass es nicht so bleiben würde. Ein Teil von mir, der fest mit ihr verwoben ist und sie wirklich kennt. Dieses Wesen, das wir beide gemein haben, das wir teilen, beschwichtigte mich. Es war schicksalhaft und klar, dass dies nur eine Pause sein konnte und nicht das Ende. Genauso kam es. Als wir uns nach einigen Jahren dann wieder trafen und umarmten, da fühlte es sich an, als hätten wir uns erst gestern gesehen. Wie ich schon sagte - wir sind Schwestern. Ich kann mich nicht von ihr entfremden. Irgendein Naturgesetzt verbietet das.

Und heute ist da noch Karölchen, bei ihr fühle ich das auch. Wir sind Seelenverwandte. Zwar kenne ich sie noch nicht so lange wie Dodo. Schließlich haben wir unser halbes Leben mit einander verbracht. Mal Hand in Hand und mal eher an der langen Leine. Aber dennoch weiß ich, dass dies keine vorübergehende Verbindung ist. Genauso geht es mir mit meinen verrückten Tanten. Falls Euch das nicht auf Anhieb etwas sagt: Ich rede von Ash und Trish und Ana und dem verrückten Onkel - Jo. Wir haben da so ein Ding am Laufen. Was andere einen Zufall nennen würden, bezeichne ich als Schicksal. Alleine wie wir uns gefunden haben, das wäre eine Geschichte wert. Eine sucht spirituell gleichgesinnte Frauen, die andere schreibt ein Buch. Die Erste liest es und will Kontakt zu der Autorin aufnehmen. Die aber inzwischen ein Forum aus Ihrer ursprünglichen Homepage gemacht hat... Der Rest ist Geschichte. Eine, die nicht erst in diesem Leben begonnen hat, uns aber in vielen zu einander geführt hat.

Wir sind verbunden, hängen am selben Faden. Für immer. Das ist echte Liebe. Da darf es auch mal Meinungsverschiedenheiten geben, Zickenkrieg, Verletzungen und Streit. Echte Freundschaft übersteht sowas nämlich. Ist Euch das klar? Sie lebt viel mehr von Wahrheit und Liebe. Auch davon, dass man sich gegenseitig unterstützt und verteidigt, bis aufs Blut. Aus reiner Überzeugung, mehr als aus Vernunft. Weil der Tag nämlich kommt, wo man sich in die Augen sieht und weiß, dass kein Hindernis so groß ist wie das, was man an einander hat. Eine solche Beziehung ist so natürlich wie atmen. Nichts kann wirklich dazwischen kommen.

Ich darf das sagen, weil ich weiß wovon ich rede. Zumindest will ich glauben und hoffe inständig, dass es so ist. Mit einer meiner Freundinnen hatte ich vor einem Jahr ungefähr so eine Zerreißprobe. Es ist unschön abgelaufen. Ich war verletzt, die Situation ist mir entgleist und hinterher schämte ich mich. Denn sie war verletzt. Und das tat unglaublich weh. Aber ich erkannte, wie sehr ich sie nach wie vor liebte. Ihre Tränen weckten mich auf. Was ich bereits verloren geglaubt hatte. Und dafür bin ich dankbar. Was passiert ist, das hat mir die Augen geöffnet. Und vielleicht hat es uns beide wieder auf Kurs gebracht, zu einander.

Wisst Ihr, es ist so unglaublich wertvoll zu wissen, dass man nie allein sein wird. Egal was geschieht. Deine Schwestern werden da sein und Dich auffangen. Es kann noch so schlimm kommen. Da wird ein Schoß sein, der Dich auffängt. In den Du Dich legen und stunden- oder tage- oder wochenlang weinen darfst. Du hast diese tief verwurzelte Gewissheit. Weil Du geliebt wirst. Weil Du jemandem wirklich viel bedeutest. So viel, dass er all dies in Kauf nehmen würde. Das Leid, den Schmerz, den Kummer, die Trauer, die Angst, den Ruin. Alles.

Ich beschreibe das seit jeher gerne so: Da ist jemand, den Du um drei Uhr nachts anrufen kannst. Weil Du jemand anderen umgebracht hast (aus gutem Grund, okay). Im Ausland. In Übersee. Und Du brauchst wiederum jemanden, der Dich außer Landes schafft. Mitten in der Nacht. Der Dich zurück holt, auffängt und Dir ein Alibi bietet. Du bist verzweifelt und Deine Zukunft liegt in Scherben. Du kannst kaum klar denken, geschweige denn Dich deutlich auszudrücken. Aber da ist dieser Mensch -  oder im aller schönsten nur möglichen Fall sogar mehrere - der für Dich da ist. Der versteht, wie schlimm die Lage war. Und er kauft ein Ticket und hält Dich ganz fest und er bringt eine Schaufel mit. Bzw. sie. Wisst Ihr was ich meine?

Ja. Ich behaupte, ich bin so gesegnet, dass ich gleich mehrere solcher Freundinnen habe, die das für mich tun würden. Weil sie mich so gut kennen. Weil sie wissen, dass ich so etwas Schlimmes nicht ohne guten Grund tun würde. Und die mich für wertvoll genug halten, mich zu beschützen. Ob ich das gleiche tun würde? Oh ja. Für jede einzelne von ihnen. 

Natürlich gibt es verschiedene Arten von Freundschaften. Es gibt die mit denen Du gut lachen, reden oder feiern kannst. Diejenigen mit denen Dich ein gemeinsames Hobby oder eine wichtige Überzeugung verbindet. Die Vergangenheit vielleicht. Und dann gibt es noch die mit denen Du alles davon machen kannst. Die Dich vollkommen so lieben und akzeptieren wie Du bist. Mit all Deinen Facetten. Die Zicke, die Drama-Queen, die Nervige, die Schwaflerin, die Besserwisserin, die Lustige, die Saufziege, die Verbohrte - alles an Dir. 

In so einer Freundschaft ist man sich der anderen sicher. Auf die gute Art. Nicht weil man sie als etwas nebensächliches, selbstverständliches ansieht. Sondern als tatsächlich selbstverständlich. So normal im eigenen Leben und an der eigenen Seite, wie die Luft zum Atmen. Dann singt und lacht Ihr womöglich wie im Film, wenn Ihr zusammen im Auto sitzt und irgendwo hin fahrt. Es ist diese kitschige Art von Freundschaft, wo man sich womöglich sogar Tattoos stechen lässt, manchmal im Partnerlook herum läuft oder ein gemeinsames Lied hat. Ihr lacht viel zu laut und habt diese Insider-Witze. Es ist wie eine Standbildaufnahme aus Teenagerzeiten. Ihr kichert und lästert und Ihr seid wie lebendige Tagebücher von einander. Ist das nicht großartig? Was für ein Geschenk.

Für Dodo habe ich mal den Song "Just be good to me" von Karmah aufgeschrieben, dann noch ins Deutsche übersetzt. Ich liebe dieses Lied. Ich werde es immer lieben und dazu mit meinem Mann tanzen und mit meinen Freundinnen und ich werde es laut mitsingen. Aber es gehört Dodo und mir. Ähnlich ist es bei "Hungry Eyes" von Dirty Dancing. Ihr wisst schon. Das ist Karölchen. Wenn ich das höre, dann stehe ich plötzlich irgendwo im Halbschatten und Diso-Lichter-Flimmern mit ihr auf der Tanzfläche. Wir tanzen langsam und singen mit und gucken uns dabei in die Augen und wir sind so ernst. Und gleichzeitig lachen wir und lächeln und machen diese verrückten Gesten. Das sind wir. Für immer.

Mädels haben einfach diese Art von besten Freundinnen. Männer ticken da anders, habe ich das Gefühl. Wir reden miteinander. Offen und allumfassend und aufrichtig. Und wir lassen nichts aus. Bis uns leichter wird ums Herz und wir wieder sicher sind, dass das Leben gut ist. Dass alles gut wird. Wir reden tiefgründig. Und wenn wir Freundinnen sind, die sich ganz auf einander eingelassen haben, dann halten wir nichts zurück. Wenn wir uns lange und gut genug kennen, wenn das Vertrauen gewachsen ist. Dann heilen wir uns auf diese Art. Das macht uns stark. Wir sind wie Spinnen mit einem eigenen Netz. Auch wenn ich diese Tiere zutiefst gruselig und grässlich und Angst einflößend finde, der Vergleich ist stimmig.

Ich erinnere mich gut daran, was für ein unschlagbares Gespann Jeff und Dodo und ich damals gewesen sind. Was für Höhen und Tiefen wir erlebt haben. Wie wir mit einander und nebeneinander her erwachsen geworden sind. Was für Geheimnisse wir hatten und auch wie wir zu einander gestanden haben. Ich werde nie vergessen, wie ich am Wochenende immer diese Spaghetti Bolognese für uns gekocht habe. Mit viel billigem Rotwein an der Sauce. Wir waren so verdammt jung. Wenn wir uns eine Weile nicht gesehen und dazu getroffen hatten, dann vermissten sie das schnell. 

Das war aber nicht der Punkt. Um unser Vertrauensverhältnis vertiefend zu beschreiben: Beide hatten Schlüssel zu meiner Wohnung und eine Bankkarte von meinem Konto. Ich lebte schon (aus meiner Sicht) sehr früh allein und musste für mich selber sorgen. Ich arbeitete lange Zeit rund um die Uhr, um Miete und meinen Lebensunterhalt bestreiten zu können. Wenn ich nach einem Zwölf-Stunden-Tag erschöpft nach Hause kam, wartete mehr als einmal ein warmes Essen auf meinem Tisch. Die Wohnung war aufgeräumt worden und sie hatten eingekauft, damit ich keinen leeren Kühlschrank vorfinden musste. Denn an den Wochenenden hatte ich einen Nebenjob als Kellnerin in einer kleinen Diskothek. Über ein Jahr lang habe ich an sieben Tagen in der Woche geschuftet und zusätzlich in zwei vollen Nächten. Dies bedeutete, dass ich von Freitagmorgen bis Sonntagabend in der Regel keinen Schlaf hatte. Gerade einmal die Gelegenheit zum Duschen und Umziehen. Aber meine Katzen waren versorgt. Obwohl ich in dieser Phase meines Lebens oft nicht mit zum Feiern kommen konnte. Denn wir waren Freundinnen.

Den Millennium-Jahreswechsel habe ich ebenfalls hinter der Theke verbracht. Bis 9.30 Uhr am nächsten Morgen. Natürlich war ich erst 20 Jahre alt und hätte gern mit meiner Clique gefeiert. Aber mein Chef brauchte auch sein verlässliches Personal für diese herausfordernde Nacht. Ich stand dort mit Tränen in den Augen, als plötzlich fast die Hälfte der Party-Gemeinde einmarschierte, die diese besondere Nacht gemeinsam verbracht hatte - ohne mein Beisein. Sie kamen zu mir. In die Nachbarstadt. Mitten in der Nacht. Oder am frühen Morgen der ersten Nacht im Jahr 2000, besser gesagt. Könnt Ihr verstehen, was mir das bedeutet hat?

Ich wurde aus dem Nest geworfen, als ich 16 Jahre alt war. Nicht nur, dass sie mit einander nicht klar kamen. Sie hatten wohl auch ihre Entscheidung zur gemeinsamen Elternschaft revidiert. Und das nach 25 Jahren Beziehung. Dafür mache ich ihnen keinen Vorwurf. Ich weiß und ich wusste, wie kaputt diese Verbindung war. Aber mich gab es auch noch. Bloß fühlte sich für diese Tatsache niemand mehr verantwortlich. Seit dieser einen Nacht im Sommer 2016, der Nacht vor meiner Schulentlassung. Sie sollte mein Leben nachhaltig verändern.

Jetzt, 24 Jahre später, will ich darüber nicht mehr jammern. Aber damals war mir lange Zeit danach zumute. Versteht Ihr das? Könnt Ihr das nachvollziehen? Wenn Du von einem auf den anderen Tag nicht mehr die verwöhnte Prinzessin bist, sondern ein Mädchen, das vor die Wahl gestellt wird, alleine für sich zu sorgen oder in ein Heim zu ziehen? Die ganze Welt bricht zusammen, oh ja. Ich denke sie konnten und wollten das wohl einfach nicht mehr. Als sie geheiratet haben, da waren sie selber nicht viel mehr als Kinder gewesen. Aber sie trafen diese Entscheidungen nicht für sich alleine. Da war noch jemand. Und dieses Mädchen fiel hinten rüber. Es wurde in einen Krieg hinein gezogen, den es zwar ansatzweise nachvollziehen, aber nie wirklich verstehen konnte.

Egal. Darum soll es hier und heute nicht gehen. Ich versuche lediglich Euch das Gewicht von Freundschaft begreiflich zu machen, wie es in meinem Universum besteht. Meine Oma und mein Opa lebten zu diesem Zeitpunkt schon längst nicht mehr (mütterlicherseits - väterlicherseits gab es leider nie einen echten Bezug - diese Familie war selber zutiefst zerstört und verkorkst). Ich war nach über der Hälfte meines jetzigen Lebensalters bereits von so viel Tod umgeben gewesen, dass es für ein ganzes Leben gereicht hätte.

Ohne meine Freundinnen und ihre eigenen Eltern, die fortan wie automatisch Verantwortung für mich übernahmen, wäre ich heute vermutlich nicht dieselbe. Dodos Papa hatte seine eigenen gesundheitlichen Kreuzchen zu tragen. Aber er renovierte meine Wohnungen und half bei den Umzügen. Er tapezierte, strich Wände und baute Möbel zusammen. Und an Weihnachten saß ich mit am Tisch von Dodos Familie. Ohne dass sie mir ein Gefühl vermittelt hätten, nicht dazu zu gehören. Diese Dimension von Dankbarkeit lässt sich kaum in Worte fassen. 

Aber ich richte diese Worte auch an meinen Freundeskreis oder meine Clique in meinem Dorf. Wo ich heute lebe. Zehn von vierzehn bodentiefen Fenstern unserer Wohnung blicken auf einen verwaisten Fußballplatz. Einen Platz, an dem wir uns eigentlich an den Wochenenden begegnen. Aber ich kann Euch nicht sehen. Gerade nicht. Nicht jetzt. Und ich darf Euch nicht berühren. Nicht einmal dann, wenn wir uns zufällig auf dem Parkplatz des Supermarkts über den Weg laufen. Also schreibe ich diesen Beitrag. Auch an Dich, J. Die Du so wenig Nähe zulässt.