Mittwoch, 3. Oktober 2012

Zeremonie

Freitag Abend, der Mond ist fast voll. Sie sind zu dritt. Der größte Altersabstand zwischen ihnen beträgt zehn Jahre. Sie führen verschiedene Leben, haben unterschiedliche Einstellungen. Und doch gibt es Gemeinsamkeiten, verbindet sie eine instinktive Gewissheit. Jede geht den alten Weg auf ihre persönliche Art und darum sind sie irgendwie gleich.
Nein, sie sind nicht immer einer Meinung. Aber das Schicksal hat sie zusammen geführt, es wird richtig sein.

Vor ein paar Tagen war das Kalenderdatum von Mabon, noch immer ist das Thema Ernte greifbar im Raum. Auch wenn Samhain schon seine beeindruckenden Schatten voraus wirft, deshalb sind sie heute nicht beieinander. Sie haben sich getroffen, um danke zu sagen und zu überlegen welche Projekte im nächsten Ernte-Zyklus reif sein werden.

Der Esstisch bildet die Mitte des Zimmers, die Beleuchtung ist schwach. Draußen dämmert es bereits. Die Vorfreude auf das Zusammentreffen erfüllte bereits den gesamten Nachmittag. Bis in die frühen Abendstunden war jede der Frauen ihren Verpflichtungen nachgegangen.

Nun nimmt Heiterkeit mit ihnen Platz am Tisch. Die Katzen werden getätschelt, Kaffee gemacht.
An den Plätzen liegen zwei Blätter von Hand geschöpftes Papier für jede bereit. Obenauf auf eine zarte Physalis, als Platzhalter für die herbstliche Ernte-Thematik. Jeder steht außerdem in einem sand-gefüllten Gläschen eine Votivkerze in orange oder warmem Pink zur Verfügung. Farbig schimmernde Brokat-Säckchen warten, sie werden sich in Talismane verwandeln.

Im Hintergrund spielt unaufdringliche Meditationsmusik, als sie sich endlich zu dritt an den Tisch setzen. Inzwischen ist es draußen vollkommen dunkel. Neben die feuerfeste Schale und das Glas mit den bunten Stiften gesellen sich zwei Teelichter. Das elektrische Licht ist ihnen zu grell. Sie haben entschieden statt dessen die wohlige Atmosphäre von Kerzenschein mit ihren Gedanken spielen zu lassen.
Noch immer wird viel geredet und gelacht. Eigentlich ein ganz normaler Tag. Eine positive, freudige Spannung liegt greifbar im Raum.


Jede wählt nun aus verschiedenen Kräutern und Harzen eine Zutat, die sie für den heutigen Abend als ansprechend befindet. Die drei Konsistenzen werden vermischt und das Lämpchen entzündet. Während die Kräuter und Pulver langsam vor sich hin glimmen macht ein angenehmer Duft sich breit.

Noch ist keine endgültige Ruhe eingekehrt. Erst wird noch der Tisch weiter befüllt. Schokoladenriegel, Chips, Dips und Snacks stillen den kleinen Appetit. Hier kann ohne Aufwand oder Unterbrechungen immer wieder zugegriffen werden.


Mit dem verebbenden Knistern und einvernehmlichen Kauen kehrt Stille ein.
Als erstes überlegen sie sich wofür sie in diesem Jahr dankbar sind. Was haben die vergangenen neun Monate gebracht? Was ist nun reif oder hat sich bezahlt gemacht?

Die drei Kerzen in dem Sand werden reihum entzündet, erhellen die Gesichter der Frauen.
Sie sitzen in einem Dreieck um den Tisch herum. Die Älteste und die Jüngste der „Mittleren“ gegenüber.

Der erste Bogen Papier liegt nun vor jeder und sie denkt nach. Die eine länger, die andere beginnt sofort zu schreiben. Die Älteste füllt ihre Seite mit unbändiger Motivation. Sie hat viel mitzuteilen, malt aus den Worten eine Spirale in leuchtendem Pink. Ihre Buchstaben sind klein und flink, dicht aneinander gereiht.


Der Jüngsten gehen die Worte ebenfalls leicht von der Hand. Sie hat sich für ein helles Grün entschieden, schreibt die Zeilen mit Bestimmtheit von der oberen Ecke bis hinunter in die Spitze.

Bei der dritten Frau dauert es ein wenig. Zwischendurch heben sie die Köpfe, sehen einander in die Augen. Sie nicken sich gegenseitig zu. Ein ermunterndes Lächeln sagt: „Doch, auch Du hast genug zu schreiben, da bin ich sicher“. Und so beginnt sie. Ein wenig zögerlicher, aber dann fließen die kleinen Strophen, die sie in Kästchen auf dem Papier anordnet. Ihre Farbe ist ein kräftiges Lila.
Am Ende hat auch sie ihren Bogen gänzlich ausgefüllt.

So viele Gedanken in den Köpfen – und doch: Wir haben uns vorgenommen nur die Dinge zu notieren, die in 2012 geschehen sind. Ereignisse, Begegnungen, Geschenke.

Im Uhrzeigersinn beginnt die Älteste über einen Punkt auf ihrer Liste zu erzählen. Freudiger Zuspruch von den beiden anderen. Sie hat beide erwähnt und in ihren Dank mit eingeschlossen.

Die nächste Frau, die mittlere aus der Runde, ist verhalten. Sie sagt dass einige ihrer Aufzählungen sehr persönlich sind. Kummer und Rührung sind so deutlich zu spüren dass auch die beiden anderen ihre Gefühle nachempfinden können. Einen Augenblick lang...

Die Jüngste spricht sehr offen über das meiste, was auf dem Zettel vor ihr liegt. Das ist ihre Art.
Sie war sich sofort im Klaren was sie aufschreiben wollen würde und teilt die Freude gerne. Sie fühlt sich sehr beschenkt. Es fiel ihr schwer die Liste zu begrenzen. Dankbarkeit hat einen hohen Wert in ihrem Leben, schon immer. Jedoch war es ihr Anliegen ausschließlich die vergangenen neun Monate zu bewerten.

Wieder Geschnatter, schon weniger allerdings. Kurze Zigaretten-Pause, Schmusen mit den Katzen und der unvermeidliche Gang; Wasser, Kaffee und Limonade lassen jede kurz aufstehen...

Kein Problem – ganz natürlich, einfach Alltag.

Nach ein paar Minuten sitzen sie wieder am Tisch und sehen sich an. Die Stimmung ist nun aufgeheizt, Magie liegt in der Luft. Jede hat Vorstellungen von dem, was sie noch ernten möchte.

Aber auch hier: Was habe ich dieses Jahr bereits begonnen – welche Saat habe ich gestreut, die ich bald einholen möchte? Welche Zeit gebe ich mir und meinen Vorhaben im einzelnen? Welche Ziele sind in den Vordergrund gerückt und wollen nun realisiert werden?

Dieses Mal beginnen sie alle drei gleichzeitig mit dem zielstrebigen Schreiben.
Sie haben die Stifte-Farben ausgetauscht, jede in ihrem Sinn. Die Blätter füllen sich rasch. Nur die Jüngste läßt sich gegen Ende mehr Zeit. Es ist heikel. Sie will nicht zu viel verlangen, nur was ihr wirklich am Herzen liegt. Für sich und ihre Lieben. Also beginnt sie zu überlegen was wirklich noch mit auf die Liste gehört.
Sie unterbricht kurz, steht auf, wird ein wenig fahrig. Doch auch ihr gelingt es schluß endlich die vermeintlich richtigen Worte zu finden.

Erneut eine kurze Besprechung. Diesmal läßt keine der Drei sehr viel darüber verlauten, welche Wünsche sie in das Papier gelegt hat. Aber eines erregt Aufmerksamkeit: Die Mittlere sagt wie sehr sie es sich wünscht endlich einmal in der Gruppe eines der Feste im Freien abzuhalten. Die Jüngste stimmt ein, ihre Sehnsucht hinsichtlich dieser Sache brennt stark, in der jungen Vergangenheit. So beschließen sie spätestens zur nächsten Walpurgisnacht, wenn es draußen wieder wärmer wird, einen kraftvollen Ort in der Umgebung auszusuchen. Spinnen Geschichten darüber, wie sie den Kreis ziehen, mit Rucksäcken und ihren Utensilien dort anrücken werden. Die Aufregung ist groß und keine kann es kaum mehr erwarten.

Einige weitere Punkte werden aufgezählt und besprochen, dann erheben sie sich. Jäckchen werden übergezogen und Schuhe. Sie haben entschieden das alte, trockene, stark rauchende Papier nicht im Wohnraum zu entzünden. Draußen wartet außerdem eine sternenklare Nacht und die hell leuchtende Mutter Mond auf sie.

Mittig besetzt nun den Glastisch auf der Terasse ein feuerfestes, massives Marmor-Gefäß. Bevor sie auch ihre Kerzen mitnehmen wählen sie noch jede drei Kräuter oder Harze für ihre Säckchen. Der ganze Abend steht unter dem Zeichen der 3. Jede hat andere Vorlieben, assoziiert individuelle Eigenschaften mit den bestimmten, natürlichen Materialien.
Als sie eintrafen lagen auf jedem der Plätze von einander abweichende Sackerl bereit. Keine hat mit einer der übrigen Frauen getauscht. Die Sitzordnung ergab sich einfach und genauso wurde auch der restliche Ablauf akzeptiert.

Nun stehen sie dort in der Dunkelheit. Es ist kalt geworden, der Wind weht. Ihre Herzen klopfen, weil sie wissen dass sie nun ihre Absichten und Danksagungen durch das Feuer freigeben werden. Sie sind bereit, in Erfüllung zu gehen.
Im Dreieck stellen sie sich um den Tisch herum auf, halten sich plötzlich an den Händen. Die Jüngste ergreift kurz das Wort, sieht ihre "Schwestern für den Augenblick" an. Sie wünscht ihnen und sich dass all ihre Sehnsüchte und Herzensregungen wahr werden mögen. Dann sprechen alle Frauen. Dass die Manifestationen zum größten Wohle der Einzelnen und des Ganzen erfolgen sollen. Worte der Freude und Demut.

Dann beginnen sie. Die Jüngste im Bunde macht den Anfang. Sie hat beide Papiere zu einer Rolle geformt, die sie in den Händen hält. Als sie die Bögen an ihrer Kerze entzündet fangen sie ruckartig Feuer. Der Wind dreht sich und facht die Flammen noch mehr an. Kurz kehren sie zurück in die Küche, füllen eine kleine Giesskanne mit Wasser. Die Worte brennen so lichterloh, der Rauch steigt so stark gen Himmel auf, dass sie vorsichtshalber ihr Feuer etwas frühzeitig löscht. Mit dem Räucherlöffel entnimmt sie die Asche aus der Schale, füllt sie in ihr rosarotes Säckchen mit den goldenen Ranken. Ein kleines Stück Papier ist noch übrig. Im Nachhinein weiß sie nun dass sie es noch brauchen würde, weil etwas in ihrer Aufzählung gefehlt hat. Sie hatte es nicht richtig formuliert.

Die Älteste ist an der Reihe. Sie faltet ihre Blätter ganz klein und legt sie zusammen in die Schale. Langsam und wunderschön anzuschauen glimmen die Zeilen vor sich hin. Der atemberaubende Anblick fesselt alle drei. Kleine Drachen, funkelnde Sterne - das alles spielt sich vor ihnen auf dem Tisch ab.

Als die Dritte ihren Papyrus, den sie zu "Himmel und Hölle" gefaltet hat, der Schale übergibt, brennt dieser erneut auf ganz eigene Art ab. Etwas zäh, aber kraftvoll - das spüren sie alle. Der Mond strahlt immer weißer, regiert den Himmel. Die Jüngste jubelt und applaudiert - sie liebt diese Kraft!

Die Schale wird ein letztes Mal ausgespült und in einen Blumenkübel ausgegossen, dann kehren sie schnell zurück ins Warme. Der hübsche Anblick der ungleichen Funkengebilde bietet noch reichlich Gesprächsstoff.
Dann widmen sie ihre Aufmerksamkeit anderen Dingen. Die Älteste ist in verschiedene Reiki-Systeme eingeweiht. Sie fühlt die Chakren ihrer Mitstreiterinnen ab, tritt unter Erlaubnis in ihre Felder ein und beseitigt einige Altlasten.


Der Balkon ist verwaist...


Die Säckchen sind gefüllt...


Die Kerzen gelöscht...


Als nächstes kommen die Lenormandkarten auf den Tisch. Ein großes Bild für alle drei wird ausgelegt. Was hat sie zusammen geführt? Welches Thema betrachten sie gerade gemeinsam? Wohin soll es führen? Die Aussagen sind klar, real und gut nachvollziehbar. Trotz der jahrelangen Erfahrung staunen sie noch immer.

Gegen halb zwölf verabschiedet sich die Mittlere aus dem Grüppchen, sie muss nach haus. Die beiden anderen sitzen noch bis halb drei und befragen die Karten. Mal mit mehr Ernst, mal mit weniger.
Der Ehemann und die Katzen sind längst unten eingeschlafen, als auch die Jüngste nach drei ins Bett kommt.

So vieles geht ihr noch durch den Kopf und ihre Träume werden lebhaft sein, doch bereits nach dem Aufwachen verblassen. Das gute Gefühl aber bleibt...

4 Kommentare:

  1. Ach schööön.
    Irgendwie wäre ich da gerne dabei gewesen. :)
    Und ich freu mich schon auf Samhain.

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    1. Die "Jüngste" hätte sich darüber riesig gefreut =D
      Und Samhain kann ich auch kaum noch abwarten!

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  2. Oh, ist das schöööön! *schnüff* Wunderschön beschrieben und klingt nach einem wahnsinnig tollen Abend. Mann, bin ich neidisch auf jeden, der in Eurer Nähe wohnen darf. =) Ich wünsche Dir von ganzem Herzen, daß all Deine aufgeschriebenen und losgeschickten Wünsche dieser Nacht sich auf die für Dich perfekte Weise manisfestieren mögen. *umarm*

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    1. Ach, das klingt doch toll - ich danke Dir! :-*
      Wäre wirklich schön gewesen, Dich auch dabei gehabt zu haben... Aber ein andermal sicher! <3

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